Beim Landeanflug auf Punta Arenas (Chile) hatte keiner von uns konkrete Vorstellungen von dem, was uns in den nächsten Wochen erwarten würde. Jeder verspürte das bekannte Kribbeln im Bauch, die leichte Anspannung, die sich einstellt, sobald etwas Neues, Unbekanntes bevorsteht, dessen Ausgang aber unklar ist. Wohl auch verständlich, schließlich ist eine Expedition in die Cordillera Darwin nicht mit einer Hüttentour in den Alpen zu vergleichen.
Gut eine Woche hatten wir für die Vorbereitungen in Punta Arenas benötigt, um alle Formalitäten und Einkäufe zu erledigen. Gleichzeitig konnten wir das südamerikanische Leben in Form von Pisco und Rotwein aufsaugen und uns an die etwas langsamer tickenden Uhren gewöhnen. Im Anschluss brachen wir Richtung Süden auf und erreichten nach einer staubigen 12-stündigen Autofahrt schließlich am 15. Januar die Westküste Feuerlands, den Ausgangspunkt für unser Abenteuer.
Am Horizont türmten sich die Berge der Cordillera auf, die immer wieder unsere Blicke in ihren Bann zogen. Nach einem entspannten und äußerst leckeren Asado verpennte es unser Skipper am nächsten Morgen – auch das gehört zum chilenischen Lebensgefühl. Schlussendlich fuhren wir dennoch gen Süden und erreichten die Bahía Fitton nach 2,5 Stunden schaukelnder Überfahrt. Mit einem riesigen Haufen Ausrüstung (450 kg) wurden wir am Strand abgeladen und schauten den zurückfahrenden Booten mit einem flauen Gefühl hinterher. Die nächsten 25 Tage würden wir auf uns allein gestellt sein, und jegliche Rettung im Fall der Fälle würde einen extremen Aufwand bedeuten. Aber genau diese Abgeschiedenheit war es, die wir suchten, fern von Alltag, Routine und Bekanntem – einfach nur wir inmitten ursprünglicher Natur und atemberaubender Berge.
Apropos, Berge – das Ziel unserer Begierde, der Monte Buckland, bisher erst einmal in den 60ern von einem italienischen Team über die Westseite bestiegen, konnten wir bereits auf der Überfahrt steil und abweisend durch die Wolken aufblitzen sehen. Mehr als anderthalb Jahre hatten wir für die Vorbereitung der Tour benötigt, nun trennten uns von seinem Fuße nur noch knappe fünf Kilometer. Also schulterten wir jeder die ersten 25 kg Gepäck und schlugen uns durch einen schmalen Streifen Küstenregenwald. Im Anschluss daran folgte eine Art offene Wiesenfläche, die bei jedem Schritt gluckerte und unsere Schuhe teils knöchel-, teils wadenhoch mit Wasser und Schlamm umspülte. Nicht zuletzt hatten Biber die Landschaft geprägt, sodass wir ganze Waldgebiete auf zernagten Baumstämmen balancierend oder von einem zum anderen springend durchquerten – mit dem schweren Gepäck ein besonderer Spaß.
Am Ende des Tages waren wir völlig ausgebrannt, aber dennoch froh, nach Stunden endlich einen halbwegs vernünftigen Zeltplatz gefunden zu haben. Die Bilanz des ersten Tages verwies auf eine zurückgelegte Wegstrecke von zwei Kilometern und einen Höhengewinn von etwa 40 m, das Ganze mit einem Drittel des Gesamtgepäcks!
Noch ernüchternder war der Weiterweg. Links und rechts des Lagers zogen steile Felswände unüberwindbar in die Höhe und ein reißender Wasserfall schien den Talabschluss zu bilden. Um nicht kurz nach der Ankunft bereits aufgeben zu müssen, bedurfte es einiger Kreativität, die einem durchschnittlichen Wanderer in Europa wohl äußerst selten abverlangt werden dürfte. Bewaffnet mit Kletterzeug und Macheten überwanden wir nahe dem Wasserfall eine 30 m hohe, glitschig bewachsene Steilstufe und schlugen uns durch das überwölbende Dickicht und den daran anschließenden Regenwald. Mehrere Fehlschläge und der beständig leichte Regen waren wenig motivationsfördernd, und dennoch erreichte der Spähtrupp ein lauschiges Plätzchen an einem See mit Bergpanorama. Nach insgesamt fünf Tagen hatten wir schließlich das gesamte Gepäck ins dortige Basislager geschleppt.
In den folgenden Tagen erkundeten wir die Umgebung und bestiegen einen kleinen Berg, den wir „Monte Bella Vista“ (deutsch Aussichtsberg) tauften. Die erste Erkundung am Buckland endete etwa 500 m unter dem Gipfel. Unangenehmes Wetter und schlechte Sicht verhinderten einen ambitionierten Versuch. Auch beim zweiten Anlauf blieb ein Teil der Crew im Lager zurück, teils aufgrund der fehlenden Erfahrung, teils um uns Rückendeckung zu geben. Zügig stiegen wir in den Sattel am Grat auf, wo auch schon beim ersten Versuch unser Hochlager gestanden hatte. Wir starteten am Folgetag nach anfänglichem Schneegriesel gegen sieben Uhr mit blauem Himmel Richtung Gipfel.
Auf dem oberen Gletscherplateau überraschte uns ein Graupelschauer, und der Blick zum Gipfel wurde immer öfter von Wolkenfeldern versperrt. Vor uns lag die 200 m hohe Gipfelflanke, über deren gesamte Breite sich ein Bergschrund zog. Das Umgehen hätte viel Zeit in Anspruch genommen, sodass wir uns für die Direttissima entschieden. Je näher wir der Verwerfungszone kamen, umso abweisender und schwieriger erschien sie. Da ich der Hauptverfechter der Direktvariante war, musste nicht lang um den Vorstieg geknobelt werden. Die unteren Meter wühlte ich mich durch tiefen Schnee, und schon bald querte ich in schlechtem Eis zur Schlüsselstelle hinüber. Der Eisüberhang hatte es in sich! Weiches, schwer abzusicherndes Eis, und am Ausstieg fanden die Eisgeräte keinen Halt auf der oberen Firnflanke. Irgendwie mogelte ich mich dennoch darüber, und in weiteren drei Seillängen erreichten wir kurz nach 19 Uhr den Gipfel, mehr als 45 Jahre nach der Erstbesteigung!
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Gern hätten wir unseren Sieg über den Buckland ausgiebig gefeiert, den unbeschreiblichen Blick über die Fjordlandschaft der Cordillera Darwin in vollen Zügen genossen und den atemberaubenden Sonnenuntergang am Ende der Welt in uns aufgesogen, doch irgendwie hinderten uns die dichte Wolkensuppe mit etwa 15 m Sicht und der beißende Wind, der unsere Seile in wenigen Minuten stocksteif gefroren hatte, daran. Wir beschränkten uns also auf die Gipfelumarmung und den im Basislager erleichtert aufgenommenen Funkspruch.
Der Abstieg gestaltete sich wesentlich zügiger als erwartet, denn trotz der schlechten Firnund Eisqualität in der Gipfelflanke konnten wir an drei passablen Abalakovs (Eissanduhren) bis unter den Bergschrund abseilen. Unsere Aufstiegsspuren waren inzwischen teils verblasen, teils zugeschneit, und die nahende Dunkelheit erschwerte die Wegfindung zusätzlich. Gut 19 Stunden nach unserem Aufbruch erreichten wir schließlich gegen 2 Uhr nachts die Zelte und ließen uns schlapp, aber zufrieden in die Schlafsäcke sinken.
Nach dem Abstieg ins Basislager störte uns der andauernde Regen, der auch ab und zu als Schnee niederging, fürs Erste nicht wirklich. Etwas Zeit zur Regeneration kam uns gerade recht. Nach dem tollen Erfolg am Buckland waren wir guter Dinge, weitere Berge mit dem gesamten Team bezwingen zu können. Nachdem es allerdings auch im Basislager mehrere Tage von früh bis spät durchgeregnet hatte, warteten wir sehnsüchtig auf Wetterbesserung. Stattdessen fiel der Luftdruck stetig weiter, und ein Tiefststand jagte den nächsten. Unmut machte sich breit, Langeweile kam jedoch nicht auf. Der anhaltende Niederschlag hatte unsere Zelte unterspült und verlangte unsere Fähigkeiten als Kanalbauer. Als schließlich auch noch die Latrine überlief und die braune Soße sich anschickte, Richtung See und Gruppenzelt abzufließen, kam die Gruppe in Schwung. Verständlich, dass das Motto der letzten Tage beschrieben wurde mit: „So wenig Spaß für so viel Geld!“. Der einzig vergnügliche Lichtblick war der Besuch eines wunderschönen Feuerlandfuchses, der fast ohne Scheu und mit viel Neugierde unser Basislager durchstöberte.
Ähnlich dem Fuchs ließen auch wir uns vom Wetter nicht unterkriegen und starteten an einem Morgen mit guten Aussichten gen Osten. Unser Ziel war ein wilder, noch unbenannter Sporn in der Hauptkette nordöstlich vom Monte Buckland. Am Himmel tobten die Wolken nach feuerländischer Manier bizarr durcheinander. Die Gruppe war gut drauf und freute sich auf einen gemeinsamen Gipfelsieg mit toller Sicht. Beim Überschreiten der Hauptkette nach Norden hüllten sich die umliegenden Berge jedoch langsam in Wolken, und wenig später tauchten auch wir ein in das diffuse Grau. Die umliegenden Fjorde verschwammen im Nebel, und die vor uns liegenden Gletscherspalten verloren im milchigen Schleier an Bedrohung. Vom Gipfel war noch lange keine Spur, und leichter Niesel ließ die Motivation sinken. Die Gruppe trennte sich in einen unerschrockenen, vom Erkundungsgeist getriebenen Teil und einen etwas weniger risikobereiten, der den Rückweg antrat. Ersterer folgte seiner Intuition und bahnte sich einen Weg über mehrere Steilstufen in den Sattel am Gipfelgrat und erreichte den höchsten Punkt nach einer bröckligen Felslänge. Oben angekommen, bot sich das gleiche milchige Panorama wie eh und je. Wie treffend erscheint da der von uns gewählte Name für den Berg: „Monte Niebla“ (deutsch Nebelberg).
Zurück im Lager, verblieb uns noch einige Zeit bis zur Rückkehr in die Zivilisation, die wir mit erfolglosen, durch das Wetter vereitelten Bergtouren verbrachten. Die letzten Tage hieß es dann erneut, das eingangs hochgebuckelte Gepäck wieder runterzuwuchten. Zum Glück hatten wir inzwischen gut 100 kg Trockenfutter vertilgt, und auch den Sprit für die Kocher als auch einige Pfunde Fettpolster hatten wir verbrannt. Dennoch brauchten wir zwei Tage, bis das ganze Material am Strand lagerte. Besonders die Querung eines Gletscherflusses hatte nochmal für etwas Aufregung gesorgt. War das ursprünglich kniehohe Flüsschen inzwischen bis kurz über den Schritt angeschwollen, so kostete es uns jede Menge Stehvermögen, um nicht auf unangenehmem Wege gen Tal befördert zu werden. Nicht schlecht staunten wir, als wir am letzten Tag auf der Halbinsel bei stahlblauem Himmel erwachten und in der gesamten Cordillera nicht ein Wölkchen auszumachen war. Dreieinhalb Wochen hatten wir uns durchs Dickicht geschlagen, hufschwere Ausrüstung umhergeschleppt und delikate Kletterstellen bei mäßigem bis absolutem Dreckswetter überwunden, nur damit wir am letzten uns verbleibenden Tag wie zum Hohn mit dem genialsten Wetter begrüßt werden?
Es dauerte den ganzen Vormittag, bis ich mich mit dem Blau arrangiert hatte. Umso mehr Freude bereitete es dann, den Miesmuscheln am Strand hinterherzujagen, sie im leckeren Sud zu köcheln und sie im Anschluss laut schlürfend zu vertilgen. Vor allem beeindruckte das atemberaubende Panorama der Darwinkette bei einer abschließenden Wanderung auf einen küstennahen Hügel. Abschließend gewährte uns der Monte Buckland während der Überfahrt ans Festland einen letzten Blick auf seine eisbesetzte Spitze.
Rückblickend auf die Tour waren wohl das beständig unbeständige Wetter, die extreme Logistik und die unbekannten alpinen Herausforderungen das Salz in der Suppe, die tiefe Eindrücke bei uns allen hinterließen. Riesig gefreut haben wir uns natürlich über das rege Interesse an unserer Tour und über die finanzielle wie auch moralische Hilfe. Vielen Dank!
In diesem Zusammenhang möchten wir uns zu guter Letzt auch bei der Abteilung Spitzenbergsport des Deutschen Alpenvereins für die Unterstützung bedanken.
Monte Buckland (Zweitbesteigung: 29.01.2012; GPS: 1746 m, S 54°22,594 / O 70°21,677); Route „Silberkondor“ (span. „Cóndor de plata”), WI4 /D Monte Niebla (Erstbesteigung: 02.02.2012; GPS: 1430 m, S 54°25,163 /O 70°15,667); Route über die Nordflanke, AD Monte Bella Vista (Erstbesteigung: 21.01.2012; GPS: 825 m, S 54°24,594 / O 70°20,672); Route über den Südgrat, II /F |